Osterwoche 2019 in Uljanowsk

Reisebericht im Pfarrbrief 6/2019 von St. Laurentius

Wenn man jemandem erzählt, dass man seine Ferien oder seinen Urlaub in Russland verbringen wird, verzieht sich das Gesicht des Gegenübers meist zu einem erstaunten Fragezeichen. Weil dann die Bilder ablaufen, die man von Russland so im Kopf hat: Von Babuschkas in Birkenwäldern über Zaren in Zwiebeltürmen bis hin zu Kommunisten mit Kalaschnikows. Und so weit weg: 2800 Kilometer lagen vor uns, als sich am Osterdienstag, dem 23. April, um 8:28 Uhr die Türen des ICE schlossen, mit dem wir – eine zwölf-köpfige Reisegruppe unter Leitung von Diakon Matthias Burkert – unsere Reise antraten. Ein bisschen flau war uns schon. Vierzehn Stunden später war nichts mehr davon zu spüren. Wir saßen, alle versammelt, in der kleinen Küche des Pfarrhauses von Uljanowsk, wo uns Dashun, die gleicher-maßen unendlich fleißige wie freundliche Pfarrhaushälterin, trotz der späten Stunde eine Pizza nach der anderen auftischte. Ein herzlicheres Willkommen hätten wir kaum haben können.
Uljanowsk, eine 600.000-Einwohner-Stadt an der Wolga, hieß ursprünglich Simbirsk. 1924 erhielt sie zu Ehren des in der Stadt geborenen Wladimir Iljitsch Uljanow ihren heutigen Namen. Allgemein bekannt als Lenin, wird er in Uljanowsk bis heute sehr geehrt. Neben vielen Denkmälern sind ihm auch zahlreiche Museen gewidmet. In einem davon erhielten wir sogar eine Führung. Andererseits gibt es in Uljanowsk eine starke religiöse Tradition der russisch-orthodoxen Kirche, die in der Stadt einen Erzbischofssitz mit dazugehöriger (frisch wiedererbauter) Kathedrale unterhält. Zunächst begegneten wir dem Metropoliten persönlich, bevor uns die Kirche samt Turm gezeigt und ein Film über den Stadtpatron St. Andrej präsentiert wurde. Letzterem ist auch eine Steele im angrenzenden Park gewidmet, einem ehemaligen Friedhof, auf dem Lenins Vater begraben ist. Obwohl die Umfriedung durch Hammer und Sichel geziert ist, steht auf seinem Grabstein ein Kreuz. Dass der Leninismus an sich doch gar nicht so unchristlich ist, war die Kernaussage der wissenschaftlichen Mitarbeiterin, die uns durch eines der Lenin-Häuser geführt hatte. Ob sie damit richtig lag, ließ sich auch durch tiefgehende Gespräche unter uns nicht abschließend klären. Trotzdem waren genau solche Gespräche neben frohmachenden Gottesdiensten das wichtigste, was auf der ganzen Reise geschah. Wir wollten keine gesellschaftspolitischen Fragen lösen, wir wollten unseren russischen Mitchristen begegnen – und diese Begegnungen waren einfach faszinierend: Wir trafen Menschen aus den verschiedensten Winkeln der Erde, die es aus irgendeinem Grund an die Wolga verschlagen hatte: Der Priester Clemens Pickel aus Deutschland, der mittlerweile Bischof von Saratow ist, einer Diözese mit einer Fläche, die viermal der seines Herkunftslandes entspricht, und der uns am ersten Tag begleitete. Die ukrainischen Ordens-schwestern, die beiden Patres, Ezechiel, der Argentinier und Orzu, der erste katholische Priester aus Tadschikistan, und nicht zuletzt Masha und Julia aus Russland, die unseren Tagesablauf organisierten und auch sonst immer für uns da waren und die durch ihre hervorragenden Englischkenntnisse so manche Verständigungsschwierigkeiten zu überwinden halfen. Und Micha, der junge Hausmeister, und natürlich Dashun. Sie alle waren so offen, so freundlich, so herzlich zu uns. Wir waren tief beeindruckt.

Die letzten zwei Sätze treffen auch auf alle anderen Teile der Reise zu: Da waren zunächst die Nächte in den Gastfamilien: Katholische Armenier, die an der Wolga Arbeit gefunden hatten und den Großteil der Uljanowsker Gemeinde ausmachen, nahmen je zwei von uns bei sich zu Hause auf. Obwohl sie uns nie zuvor gesehen hatten, empfingen sie uns wie alte Freunde. So kehrten wir Abend für Abend in die Neubaublocks von Novy Gorod (Uljanowsk-Neustadt) ein, wo sie uns für drei Nächte zu sich aufnahmen und wie eigene Familienmitglieder behandelten, und vor allem, bewirteten.
Aber auch auf unserem Zwei-Tages-Ausflug in die 200 km entfernte Nachbarstadt Kasan schlugen uns Wärme und Herzlichkeit entgegen: Die Ordensschwestern kochten mehrgängige Menüs für uns und zeigten uns sowohl am Abend der Ankunft als auch am nächsten Tag die vielen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Und die hat wirklich was zu bieten: Von verschiedenen orthodoxen Kathedralen (inklusive der berühmten Ikone „Mutter Gottes von Kasan“) über die „Tausend und einer Nacht“ entfallen scheinende Moschee auf dem Kasaner Kreml bis zum imposanten Fußballstadion und einer glamourösen Metro gab es wirklich alles. Als Hauptstadt der teilautonomen Republik Tatarstan ist Kasan einfach etwas Besonderes.
Was nicht heißt, dass Uljanowsk nichts zu bieten hätte:
An unseren letzten Tagen bekamen wir auch dort noch allerhand zu sehen: Nach einer abenteuerlich-ruckligen Straßenbahnfahrt besuchten wir eine Markthalle, in der so ziemlich alles verkauft wurde. Auch sämtliche Teile der geschlachteten Schweine, Rinder und Pferde, die man dort zerlegte. Ganze Stücke konnten wir dagegen im Luftfahrtmuseum betrachten, wo uns eine Fülle von ausrangierten Luftfahrzeugen verschiedenster Art (inklusive dem beeindruckenden russischen Concord-Pendant Tu-144) präsentiert wurde.
Dann, irgendwann, war der letzte Abend gekommen. Alle hatten sich im Pfarrhaus versammelt: Julia, Masha, Dashun, Micha, die Patres, die Schwestern, unsere Gastfamilien. Um uns zu verabschieden. Es wurde ein bunter Abend. Während Pater Ezechiel am Grill stand, spielte eine Ordensschwester mit den Kindern Ballspiele und Fangen. Dann wurde gegessen, gespielt, getanzt und gezaubert (die Tricks von Pater Orzu waren einfach kultig). Und dann wurde es spät. Der Abschied rückte näher, und bei den meisten von uns auch die Tränen. Am nächsten Morgen würden wir, nach einem letzten herzhaften Frühstück von Dashun, um 4:15 Uhr das Pfarrhaus Richtung Flughafen verlassen. Und um 6:15 Uhr Uljanowsk in Richtung Deutschland.
Wenn man jemandem erzählt, dass man seine Ferien oder seinen Urlaub in Russland verbracht hat, verzieht sich das Gesicht des Gegenübers meist zu einem erstaunten Fragezeichen. Weil dann die Bilder ablaufen, die man von Russland so im Kopf hat. Mit Babuschkas, Zaren und Kommunisten. In unseren Köpfen wohnen jetzt jedoch andere Bilder: Mit jungen Ordensleuten, die Fußball, Fangen und Tischtennis spielen. Oder Zaubertricks aufführen. Mit armenischen Familien, die oft viel weniger haben und viel glücklicher leben als wir. Mit Menschen, die jederzeit für ein Gespräch bereit sind. Mit Menschen, die strahlen. Die strahlen vor Offenheit, Herzlichkeit und Freude. Osterfreude.

Lorenz Emanuel Mittag